Nur im Zwielicht dieser theologischen Selbstreduktion war es möglich, dass der amerikanische Präsidentschaftskandidat Barack Obama die Frage nach der «Homo-Ehe» souverän beantworten konnte mit dem Hinweis darauf, dass er in allzu vielen Kirchen miterlebt habe, wie ein Prediger die schläfrigen Hörer aufzuwecken
versuchte mit einem billigen rhetorischen Trick, indem er in die Versammlung hineinschrie: «Adam and Eve, not Adam and Steve!» Er sei nicht bereit, fuhr Obama fort, «eine Bibelauslegung zu akzeptieren, die einer obskuren Stelle im Römerbrief mehr Gewicht für die Definition christlichen Verhaltens beimisst als der Bergpredigt».
Mit seiner gediegenen Bildung konnte Obama zurückgreifen auf einen Gegensatz zwischen Paulus (Römerbrief) und Jesus (Bergpredigt), der im 19. Jahrhundert als ein willkommenes Denkmuster propagiert worden ist, und konnte sich damit den vulgären Formen einer aufgehetzten Selbstgerechtigkeit entziehen. Doch das hat seinen hohen Preis. Obama musste die Einleitung zu einer zentralen neutestamentlichen Schrift als «obskur» denunzieren. Das aber ist ganz offensichtlich ein rhetorischer Trick auf einer höheren Ebene. Denn jeder Leser kann sich selber überzeugen: Paulus formuliert nicht obskur, sondern schneidend scharf und innerlich stringent. Er deckt Zusammenhänge auf, die ein in sich stimmiges Verständnis erschliessen und manches erhellen, wenn man sich auf die Argumentation einlässt. Natürlich kann man die Annahmen des Paulus und insbesondere seine von der alttestamentlichen Prophetie genährte Sichtweise als falsch ansehen und ablehnen (weil man sie als in unbeweisbaren, jüdischen Vorurteilen verfangen erachtet). Aber kein wohlwollender Leser kann dem Apostel unterstellen, dass er mit diffusen Anspielungen dunkle Aversionen bediene. …
Dadurch aber, dass Barack Obama, von den Theologen dazu ermächtigt, allzu souverän über die Einleitungsworte zum Römerbrief hinweggehen konnte, hat er sich um die Möglichkeit gebracht, etwas von dem zu leisten, was doch für jeden Präsidenten eines der höchsten Ziele sein muss, nämlich: All die vielen zu einen, denen er vorsteht. Wer den Apostel Paulus in einen Gegensatz zur Bergpredigt Jesu bringt, verspielt die Möglichkeit, diejenigen zu überzeugen, die daran glauben, dass Jesus auch Paulus zu einem vollwertigen Apostel berufen und mit dem Geist der Wahrheit ausgerüstet hat.