aus dem Teil 1: Gegen die Natur

Der kanadische Erkenntniswissenschaftler Ian Hacking konstatiert, dass das Wissen der Naturwissenschaften kontinuierlich gewachsen ist, während die Sozialwissenschaften sich in immer wieder neuen Dogmen und Spekulationen verlieren. Niemand kann das Wissen über den Menschen so stabilisieren, dass sich eine Herrschaft des Menschen über den Menschen derart zielsicher etablieren lässt wie die Herrschaft der Ingenieure und Fabrikarbeiter über das Material, aus dem sie Autos oder Bildschirme oder andere technische Produkte bauen. Die Politiker versuchen
zwar je wieder, die Menschen nach ihren Idealen von Gerechtigkeit und Freiheit zu formen. Doch es gelingt ihnen nicht.
Das ist so, weil kein Mensch auch nur sich selber beherrschen kann.
Das zeigt sich besonders deutlich – und oft auch besonders demütigend – am Ursprung eines jeden Menschenlebens. Kein Mensch kann selber alles Nötige in die Wege leiten, damit er sein Leben so weitergeben kann, wie er das möchte. Jeder hat sein Leben empfangen aus Kräften und materiellen Vorgaben, die unüberblickbar vielschichtig und undurchschaubar seinem Willen entzogen sind. …

Diese Grenze der menschlichen Macht über den Menschen zeigt sich aber noch viel elementarer – und oft noch viel beschämender – schon viel früher: Kein Mensch kann sein Begehren nach dem anderen Geschlecht seiner vollständigen Kontrolle unterwerfen. Kein Mann kann sich selber befehlen, dass er vom Begehren nach einer Frau frei sein wolle, und dann ist er es. Und keine Frau kann beschliessen, dass sie sich niemals leibhaftig mit einem Mann vereinen werde – und dann geschieht es so, wie sie sich das vorgenommen hat. Vielmehr werden auch sehr willensstarke Menschen erfüllt und getrieben von Wünschen, Ängsten, Sehnsüchten, von Ekel- und von Lustgefühlen, die sie nicht ihrem Willen gemäss zu formen vermögen. In unterschiedlichem Mass haben alle Menschen zu kämpfen damit, dass sie entweder ohne das Begehren sind, das sie gern haben möchten, oder umgekehrt erfüllt werden von Begierden, von denen sie gern frei wären.
Zwar versuchen die Menschen das zu kaschieren und geben sich in aller Regel so, als hätten sie ihre Wünsche und Ängste im Griff. Wer es aber wagt, sein eigenes Empfinden und Verhalten offen und ehrlich wahrzunehmen, wird feststellen: Eben dort, wo jedes Menschenleben seinen Ursprung hat, in der Vereinigung von einem männlichen Samen und einem weiblichen Ei, zeigt sich, dass die Herrschaft des Menschen über sich selber und über andere Menschen ihm nicht gegeben ist. Nur verkrampft, verheuchelt und mit mehr oder weniger roher Zwangsgewalt lässt sich eine Herrschaft des Menschen über den Menschen aufrichten. Eine solche erzwungene Herrschaft des Menschen über den Menschen aber ist niemals so innerlich stimmig, so natürlich, wie die Herrschaft des Menschen über die Natur.
Der Mensch kann die Natur – aber er kann sich selber nicht beherrschen